Warum Alice Weidel die letzte Stimme der Vernunft ist

Friedrich Merz, der politische Wiedergänger aus der Aktentaschenhölle des Neoliberalismus, hat es also geschafft: Kanzler. Und wie jeder Kanzler, der etwas auf sich hält, hielt er gestern seine erste Regierungserklärung. Heraus kam eine Mischung aus Rüstungsfetischismus, haushaltspolitischer Akrobatik und rhetorischer Placebo-Therapie für ein Land mit ausgewachsener Multikrisen-Depression.

500 Milliarden für die Bundeswehr? Das ist nicht nur ambitioniert, das ist das nationale Pendant zu einem Porsche auf Kredit kaufen, während der Strom abgestellt wird. Aber gut, man muss eben Prioritäten setzen – und Merz‘ Prioritäten heißen „Panzergeneral“ statt „Pädagoge“, „Haubitze“ statt „Heizung“ und „NATO first“ statt „Nachbarschaftshilfe“.

Und wer ruft in dieser Zeit der allgemeinen politischen Schlafwandlerei zur Ordnung? Ausgerechnet Alice Weidel. Ja, die Alice Weidel – sonst gerne als Gallionsfigur des rechten Kulturpessimismus verschrien, nun aber mit ungewohnt scharfer Präzision.

Weidel bezeichnete Merz in ihrer Reaktion auf die Rede als „Totengräber der Schuldenbremse“ – was angesichts des 500-Milliarden-Sondervermögens tatsächlich eher eine sachliche Feststellung als eine polemische Spitze war. Während Merz mit der Kreditkarte der Zukunft shoppen geht, fragt Weidel nüchtern: „Wie wollen Sie das eigentlich zurückzahlen?“ Eine Frage, die selbst in den Reihen der FDP mittlerweile als subversiv gilt.

Auch in Sachen Migrationspolitik liefert Weidel, was die restliche Opposition längst verlernt hat: klare Kante. Während Merz zwischen Abschiebungssymbolik und integrationsromantischen Worthülsen laviert, sieht Weidel im Koalitionskurs nichts als ein Placebo für eine überforderte Bevölkerung. Man kann es Populismus nennen – oder eben: die einzige verbliebene Realitätsnähe im Bundestag.

Und als wäre das nicht genug, wagt Weidel noch den geopolitischen Tabubruch: Sie fordert Verständnis für russische Sicherheitsinteressen. Während Merz auf PR-Reise nach Kiew geht, wie ein Influencer mit Kanzleramtstitel, fordert Weidel: Frieden durch Verhandlungen statt Krieg durch Moralimperialismus. Und man fragt sich: Wer ist hier eigentlich der Staatsmann – und wer spielt bloß einen auf Instagram?

Natürlich wies Merz jegliche Zusammenarbeit mit der AfD empört zurück. Mit dem Pathos eines Moralisten aus dem Elfenbeinturm schleuderte er Weidel ein giftig-entschlossenes „Mit Ihnen nicht!“ entgegen. Dabei könnte man ihm zurufen: „Mit wem denn sonst, Friedrich? Mit der SPD, die ihre letzte Überzeugung in der Heizungsdebatte versenkt hat? Mit den Grünen, die Kinderbücher zu Verteidigungsetats umfunktionieren?“

Weidel mag polarisieren, aber in diesem absurden Theater ist sie aktuell die Einzige, die nicht wie ein Statist auf der Bühne herumirrt. Während Friedrich Merz das Kanzleramt als Bewerbung für ein NATO-Ehrenabzeichen versteht, hat Alice Weidel die Stirn, Fragen zu stellen, die man in einer funktionierenden Demokratie eigentlich aus der Mitte hören sollte.

Vielleicht wird es Zeit, dass Friedrich Merz seinen wohltemperierten Slogan überdenkt. Statt „Mit Ihnen nicht“, wäre angesichts der Lage ein ehrlicherer Satz:
„Ohne Sie geht’s wohl auch nicht.“